Die Sache mit dem Abstand und den Instinken

Ich bin jetzt 15 Monate bei den Piraten, was der mittleren Tragzeit bei Nashörnern entspricht.

15 Monate sind lang genug, um bestimmte Vorkommnisse innerhalb der Partei mehrfach gesehen zu haben, und darin wiederkehrende Muster zu erkennen.

Eines davon ist die „Netter-Kerl“-Verteidigung (hat nix mit dem Nice Guy™ zu tun).

Der Versuchsaufbau ist folgender:

  • Ausgangslage: ein Pirat P, der ein Statement S von sich gibt
  • Katalysator: eine Gruppe G bestehend Piraten (bevorzugt aus anderen LVs), die darauf hinweist, dass es sich bei dem Statement S um Kackscheisse der Form K handelt, für K = {antisemitisch, sexistisch, rassistisch, … }
  • Reaktion: eine Gruppe G‘ von Piraten, aus dem selben Landesverband wie Pirat P stellt sich hinter P und verkündet mit Vehemenz, beim Statement S könne es sich auf keinen Fall um Kackscheisse vom Typ K handelt, da P ja keinesfalls k sei. Und überhaupt wisse jeder, der P kennt, dass dieser ein netter Kerl sei.

Hand auf’s Herz: dieses Feuerwerk hat jeder von uns schon mehrfach gesehen, oder?

Das Ulkige ist: die beschriebene Reaktion ist auf der menschlichen Ebene so natürlich, so nachvollziehbar.

Die Menschen, mit denen wir uns umgeben, werfen einen Abglanz auf uns.

Wenn wir die Nähe eines Menschen suchen, an ihm interessiert sind, und Zeit mit ihm verbringen, signalisieren wir damit, dass wir ihn akzeptieren.
Wenn nun andere dieser Person eine gravierende Charakterschwäche vorwerfen, gehen wir in die Defensive, und zwar IMHO aus zwei Gründen.

Erstens haben wir das Gefühl, dieser Vorwurf fiele auf uns zurück. Wenn ich den Johnny gern hab, und als mir ähnlich anerkenne, und jemand nennt den Johnny einen Nazi, dann wurde ich ja implizit auch ein Nazi genannt.

Zweitens ziehen solche Vorwürfe gegen eine Person,  mit der wir verkehren, implizit unsere Menschenkenntnis und unser Urteilsvermögen in Frage. Da ich *natürlich* niemals mit Nazis rumhängen würde, kann mein Kumpel Johnny kein Nazi sein. Wenn er einer wäre, würde ich nicht mit ihm rumhängen, oder?

Die Abwehrreaktion, wenn „einer der unseren“ einer wie auch immer gearteten Kackscheisse beschuldigt wird, ist also völlig natürlich, ja: fast instinktiv.

Und sie ist häufig objektiv falsch.

Manchmal geben Leute, die wir kennen und vielleicht sogar mögen, eben fragwürdige Sachen von sich. Und wir haben das instinktive Bedürfnis, diesen Vorwurf gegen uns, äh, diese Person entschieden zurückzuweisen.

Shit.

Und jetzt?

Jetzt treten wir einen Schritt zurück und atmen einmal tief durch.

Wir sollten uns eingestehen, dass wir womöglich zu nahe dran sind, um die Vorwürfe beurteilen zu können. Umso mehr sollten wir die vorgebrachte Kritik genau prüfen.
Sind die Statements aus dem Zusammenhang gerissen? Wahrscheinlich, aber sind sie *sinnentstellend* aus dem Zusammenhang gerissen worden?
Wenn mehrere Statements zitiert werden, ist wirklich ein Muster erkennbar?

Um objektiver vorgehen zu können. können wir uns vorstellen, jemand anderes hätte die beanstandeten Statements von sich gegeben. Stellen wir uns einfach vor, der Meier aus Berlin hätte gesagt, das mit Polen sei ja kein Angriffskrieg gewesen, sondern ein #ausGründen berechtigter Erstschlag.
Na, klingt das wie Nazi-Kackscheisse, wenn man sich das in Berliner Schnauze vorstellt?
Ja? Sorry, dann *war* es wahrscheinlich auch wirklich Kackscheisse.

Nun ist es so: wenn sich ein Mensch in unserer Umgebung tatsächlich als piratisch untragbar erweisen *sollte* (mal angenommen), dann ist es nicht unser *vergangenes* Verhalten, das uns im Zweifelsfall mit reinreisst. Vielmehr werden wir ab sofort daran gemessen, wie wir auf diese Vorwürfe reagieren.

Dass man sich in Menschen täuscht, das kommt in den besten Familien vor.
Wenn wir uns eingestehen müssen, dass eine befreundete Person gerade echte Kackscheisse von sich gegeben hat, dann müssen wir das laut sagen, und verlangen, dass diese Person Stellung zu den Vorwürfen bezieht.

Erst wenn wir die Augen vor den Vorwürfen verschliessen, indem wir sie unbesehen ablehnen, *dann* müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen, Kackscheisser der Form K zu decken und damit Kackscheisse der Form K gutzuheissen.
Und ganz ehrlich: das würde uns zu Recht denselben Vorwürfen aussetzen.

(Nebenbei: auch bei der beschuldigten Person laufen IMHO ähnliche Prozesse ab, und es wird aus ähnlichen Gründen so vehement dementiert, und so absurd argumentiert. Auch hier würden ein wohlgesetztes „oh shit, hab ich falsch formuliert, sorry“ Wunder wirken)

Also:
In Zukunft einen Schritt zurücktreten und uns fragen, ob unsere Instinkte uns nicht daran hindern, die Vorwürfe mit der nötigen Objektivität zu beurteilen.

Und wenn wir dann feststellen, dass z.B. die Statements wirklich scheisse sind, dann müssen wir einem Freund noch lange kein Messer in den Rücken rammen.
Wir können den Johnny auch anrufen und sagen „hömma, das klingt wirklich ein bisschen schräg“ und ihm so vielleicht sogar die Möglichkeit geben zu sagen „joa, ist mir auch grad aufgefallen. Was mach‘ ich denn jetzt?“

In diesem Sinne wünsche ich Euch besinnliche Feiertage 🙂

Comments: 2

  1. ostpirat 24. Dezember 2012 at 9:38 Reply

    Ist ein positiver Artikel, danke. Klingt gut. Dir auch mal ein Frohes Fest.

    Ostpirat

    • DanielaKayB 24. Dezember 2012 at 11:47 Reply

      Danke.

      Ein gutes neues Jahr für Dich und die Deinen 🙂

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